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Von der personalen Sicht des Menschen hin zur Psychiatrisierung kindlichen Verhaltens

Immer neue Reformen im Schulbereich führen zu einem Anstieg von Lernschwierigkeiten und seelischen Auffälligkeiten bei Kindern

von Dr. med. Andreas Bau, Hackborn

zf. Um heutige Ereignisse und Entwicklungen verstehen, einschätzen und einordnen zu können, braucht es die Fähigkeit, gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Entwicklungen mit wachem Geist über einen langen Zeitraum zu überblicken und im mitmenschlichen Sinne zu beurteilen. Richtungsweisende Erkenntnisse daraus dienen dem Wohle aller. Dies gilt auch für den Bereich der Bildung und der Medizin (Sozialwissenschaften), wie der folgende Beitrag auf das Eindrücklichste zeigt.

Bei Kindern, die durch Lernschwäche oder ihr Verhalten auffallen, werden heute bereits im Kindergarten und später in der Schule Diagnosen aus dem psychiatrischen Bereich wie ADHS, Autismus, Asperger-Syndrom usw. gestellt und häufig mit Psychopharmaka wie Ritalin behandelt. Das war nicht immer so. Noch in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden die Auffälligkeiten in dem Bereich behoben, in dem sie entstanden waren: durch pädagogische, psychologische oder erzieherische Mittel. Die im folgenden geschilderten Veränderungen sollen den engen Zusammenhang zwischen dem Paradigmenwechsel in der Schule, dem nicht mehr personalen Menschenbild und parallelen Fehlentwicklungen in der medizinischen Diagnostik aufzeigen.

Dieser Wechsel von der personalen Sicht des Menschen hin zur Psychiatrisierung kindlichen Verhaltens hat seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts durch immer neue Reformen im Schulbereich zu einem Anstieg seelischer Auffälligkeiten bei Kindern geführt.

Auch wir Kinderärzte mussten uns mit dieser Problematik befassen und uns einen Standpunkt entsprechend unserem Berufsethos erarbeiten.

Erste Schulreformen und psychosomatische Auffälligkeiten

Ende der 60er bis Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurden in kurzer Zeit ungewöhnlich viele Kinder im Alter von 6 bis 8 Jahren auf der grossen psychosomatischen Abteilung einer der grössten deutschen Kinderkliniken in Hamburg aufgenommen. Die Kinder wirkten sehr nervös und verunsichert und zeigten eine Reihe von ungewöhnlichen Verhaltensauffälligkeiten. Die Kinder kamen alle aus dem Nachbarland Schleswig-Holstein und besuchten dort die erste und zweite Klasse der Volksschule. Dem Chef der Hamburger Kinderklinik, Herrn Prof. Seelemann, der auch für die Psychosomatische Abteilung die Verantwortung trug, erschien dieser Vorgang sehr auffällig. Er stellte Nachforschungen an und fand heraus, dass in den betreffenden Schulen ohne Übergang die bewährte analytische Methode beim Lesen- und Schreibenlernen durch die sogenannte Ganzwortmethode ersetzt worden war.

Die damals als fortschrittlich gepriesene Ganzwortmethode setzte auf das Einprägen ganzer Wortbilder und verhinderte so das Verständnis für den Aufbau unserer Schrift. Hierfür ist die analytisch-synthetische Methode, die Laut und Zeichen einander zuordnet, unerlässlich. Herrn Prof. Seelemann war sofort klar, dass die Umstellung der Lehrmethode die Ursache für die Verhaltensauffälligkeiten so vieler Kinder war. Er besprach sich mit der Leiterin der kinderpsychiatrischen Abteilung der Universitätsklinik. Sie besuchten umgehend die für die Grundschulen zuständigen Behörden. Sie legten ihre Vermutung dar und forderten die sofortige Wiedereinführung der analytischen Lehrmethode.

Die Schulbehördenvertreter zeigten sich einsichtig ob des Einspruchs der kinderärztlichen Autoritäten. Sie änderten die Lehrmethode, und in kurzer Zeit gab es keine verhaltensauffälligen Kinder aus den betreffenden Grundschulen mehr. Zu damaliger Zeit wurden keine psychiatrischen Diagnosen gestellt und keine Psychopharmaka verabreicht. Die Ursache fand sich im pädagogischen Bereich und wurde auch hier gelöst! Die medizinische Diagnosestellung beruhte noch auf einer sorgfältigen Erhebung der Anamnese, nach dem Prinzip: Die Anamnese ist die halbe Diagnose.1 Die Geschichte ist unter anderem dazu da, um aus ihr zu lernen.

Einführung der Mengenlehre – Abschaffung der Rechtschreibung

1975, meine Tochter besuchte die erste Klasse der Grundschule in unserer Gemeinde: Ohne Vorankündigung oder Erklärung wurde die Mengenlehre in der Mathematik eingeführt. Erst nach Einführung wurden die Eltern über den angeblich grossen Wert und Fortschritt der Mengenlehre unterrichtet. Am Abend sassen oft Eltern mit ihren Kindern zusammen und versuchten, die Mengenlehre zu verstehen und ihren Sinn zu erkennen. Mir war das nicht möglich. Ich hatte das Gefühl, ich beschäftige mich mit unsinnigen hirnakrobatischen Gespinsten. Anderen Eltern ging es ebenso. Wir hielten mit unserer Kritik nicht zurück. Wir waren noch nicht vom Zeitgeist erfasst, sondern wertorientiert.

Wenige Wochen später hörte die Klassenlehrerin auf, die Schreibfehler zu verbessern. Wir Eltern sprachen uns ab und luden zu einem Elternabend ein.

Wir forderten die Lehrerin auf, die Mengenlehre wieder aus dem Lehrplan zu nehmen und die bewährte, richtige Schreibweise der Wörter wieder zu vermitteln. Wir waren sehr deutlich. Die Lehrerin versprach, unseren Wunsch mit dem Direktor der Schule zu besprechen und uns zu informieren. Nach vier Wochen hatten wir noch nichts gehört. Alles lief so weiter.

Wir Eltern hatten für diesen Fall vorsorglich einen Plan entwickelt und luden erneut zu einem Elternabend mit dem Direktor und dem Hamburger Schulsenator ein. Der Direktor erschien, aber nicht der Schulsenator. Wir zeigten uns sehr erstaunt, dass wir weder von der Lehrerin noch von dem Schulleiter etwas gehört hatten. Vom Senator hatten wir keine Entschuldigung für sein Nichterscheinen erhalten. Der Elternsprecher der Klasse legte unsere Forderung dar: Die Mengenlehre wird innert der nächsten Woche wieder aus dem Lehrplan genommen und die Rechtschreibung wieder wie gehabt gelehrt, oder wir nehmen unsere Kinder aus der Schule, engagieren einen eigenen Lehrer und benachrichtigen die Presse. Die rechtlichen Konsequenzen nehmen wir gern auf uns. Wir erwarten von der Schule – dafür zahlen wir schliess­lich Steuern – , dass sie unsere Kinder so bildet, dass sie später einen guten Beruf lernen können. Ende der Ansage. Wir waren eine gute Gemeinschaft von empörten und tatkräftigen Eltern.

Nach vierzehn Tagen ging die Lehrerin sang- und klanglos wieder zu der tradierten Rechenmethode über. Nach einem Jahr erklärte sie mir, dass sich herausgestellt habe, die Methode sei nicht brauchbar. Die Lehrerin begann zögerlich, wieder Wert auf eine sorgfältige Rechtschreibung zu legen. Wir Eltern mussten noch häufig intervenieren und die Lehrerin ermahnen. Zudem erfuhren wir, dass die Lehrerin den Kindern gesagt hatte, die Eltern dürften zu Hause die Schreibfehler nicht korrigieren. Das brachte meine Tochter immer wieder in Konflikt zwischen ihren Eltern und der Klassenlehrerin und hatte eine Verunsicherung im Lernen zur Folge.2

In anderen Schulen wurden von den Reformern diese Irrwege zum Schaden der Kinder weiter vorangetrieben. So war es nicht verwunderlich, dass ab Anfang bis Mitte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Einrichtungen, die sich mit Verzögerungen der kindlichen Entwicklung und mit behinderten Kindern beschäftigten, schrittweise damit begonnen wurde, Kinder, die mit ihrem Verhalten gelegentlich etwas aneckten oder einfach nur lebhaft waren, mit der Diagnose Minimale cerebrale Dysfunktion (MCD) oder einfach Cerebrale Dysfunktion (CD) (Fehlfunktion des Gehirns) zu belegen. Darunter waren auch viele Kinder, die auf Grund der Schulreformen diese Auffälligkeiten zeigten. In der Schweiz sprach man von einem Psychoorganischen Syndrom (POS). Dass dieselbe Diagnose unter einem anderen Namen gleichzeitig in der Schweiz auftauchte, hat einige Kinderärzte stutzig gemacht. Dieses «Krankheitsbild» gab es dagegen in der damaligen DDR nicht!

Auch hier lässt sich aus der Geschichte lernen.

Die Kinder waren weder im Verhalten besonders auffällig, noch wären Kinderärzte auf den Gedanken gekommen, diese Kinder mit Medikamenten zu behandeln. Es fiel eine leichte Knabenwendigkeit auf. Eine Gruppe von älteren, sehr erfahrenen Kinderärzten war der Meinung, die Kinder bräuchten etwas mehr häusliche erzieherische Anleitung. Wir warfen auch die Frage auf, ob dieses gelegentlich leicht auffallende Verhalten nicht eine Folge des Laissez-faire-Erziehungsstils der 60er und 70er Jahre sei. Propagiert wurde die Diagnose Minimale cerebrale Dysfunktion besonders von Ärzten, die in Verbänden der deutschen Kinderärzte aktiv waren und die sich mit einer Klassifizierung von Entwicklungsverzögerungen bei Kindern befass­ten. Mehrere dieser Kinderärzte führten in Hamburg eine eigene Praxis, so dass Hamburg zu einer Speerspitze und einer Hochburg der hier beschriebenen Veränderungen wurde. (Hamburg hat heute die höchste Ritalin-Verschreibungsquote von Deutschland.) Wir kritischen Kinderärzte gingen davon aus, dass die betroffenen Kinder für die Diagnose MCD neurologisch fassbare Auffälligkeiten aufweisen müssten. Die unsachgemässe Zuschreibung einer Minimalen cerebralen Dysfunktion (hirnbedingtes Fehlverhalten) legt diesen Schluss zwingend nahe.

Mit dieser Fragestellung führte ein renommierter kinder­neurologischer Spezialist aus dem Olga-Spital in Stuttgart eine grosse Studie durch und bewies schlüssig, dass die betroffenen Kinder neurologisch gesund seien. Damit war diese Diagnose wissenschaftlich vom Tisch, und wir fühlten uns bestätigt. Aber wir kritischen Kinderärzte hatten die Pläne der Kinder- und Allgemeinärzte, die mit kräftiger Unterstützung der Pharmaindustrie eine Klassifizierung des Verhaltens von Kindern vorantrieben, unterschätzt. Auch fehlte uns damals der politische Ein- und Weitblick.

Wir blieben aber weiterhin kritisch, da uns das plötzliche Auftauchen von bis anhin undenkbaren Diagnosen sehr hellhörig gemacht hatte. Die Protagonisten dieser neuen Entwicklung blieben nicht untätig, sie begannen eine Vielzahl von Symptomen einer Fehlfunktion des kindlichen Gehirns zuzuordnen. Vorwiegend beschrieben sie Symptome aus dem Verhaltensbereich. Die neue übergeordnete Diagnose sollte der äusserst schwammige Begriff einer Wahrnehmungsstörung sein. Darunter lässt sich vieles subsumieren. Ein Schritt in Richtung einer weiteren Psychiatrisierung menschlichen Verhaltens! Logopäden, Physiotherapeuten, aber besonders die neu geschaffene Berufsgruppe der Ergotherapeuten zusammen mit den Heilpädagogen sollten den betroffenen Kindern helfen, ihre Wahrnehmung zu korrigieren.

Die von mir von Ergotherapeuten eingeforderten Berichte boten in der Regel auf die von mir gestellten Fragen keine brauchbare Antwort. Mir als studiertem Kinderarzt erschien damals die Tätigkeit der Ergotherapeuten, anders als heute, als sehr unrealistisch. Während die neuen Diagnosen den entsprechenden, oft sehr kostspieligen Therapieansätzen eine übermässige Bedeutung verliehen, wurden Erziehung und Pädagogik massiv abgewertet. Unter dem Motto «Fühli-Gspüri» wurden die aberteuerlustigsten (wohlbemerkt, das Wort ist richtig geschrieben) «Therapien» angeboten und aus dem medizinischen und pädagogischen Bereich ausgelagert.

Diese Vorgänge mündeten in die Kreation der Diagnose ADHS und seine Aufnahme in den DSM-III-R im Jahre 1987 (Diagnostik and Statistical Manual of Mental Disorders, Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Erkrankungen). Der DSM ist ein Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung.3

Bericht über die weitere Entwicklung der Diagnosestellungen

Parallel zu den oben geschilderten Vorgängen behauptete eine Gruppe von Eltern mit sehr lebhaften Kindern unter Führung einer Kinderärztin, dass die vermeintlich krankhaft lebhaften und unkonzentrierten Kinder an einer Phosphat-Allergie litten. Die Kinderärztin hatte mit einem Lakmusstreifen im Speichel der betroffenen Kinder eine saure Reaktion festgestellt. Damit war für sie die Diagnose Phosphat-Allergie bewiesen. Im Rahmen einer allgemeinen Allergiewelle wurde die Phosphat-Allergie sehr ­populär. Die betroffenen Kinder erhielten die Diagnose «Phosphaties». Die Kinderärztin arbeitete strenge phosphatfreie Diätpläne aus. Viele Eltern in Deutschland, die meinten, ihre Kinder seien von der neu entdeckten Allergie betroffen, sorgten dafür, dass ihre Kinder völlig phosphatfrei ernährt wurden. Der Genuss von Coca-Cola war streng untersagt. Ein grosser Teil der Kinder, die mit dieser Diät ernährt wurden, verhielt sich überraschenderweise zur Zufriedenheit ihrer Eltern plötzlich ruhiger.

Dazu ein Beispiel, das nachdenklich macht und eine Erklärung liefert:
An einer der vom Ordinarius für Kinderheilkunde Prof. Schulte geleiteten regelmässi­gen vierwöchentlichen Fortbildungen in der Universitätskinderklinik Hamburg-Eppendorf stellte ein Kinderarzt die folgende Frage: «Ein Kind aus meiner Praxis, das unter einer phosphatfreien Ernährung ruhiger geworden war, ist nach dem Genuss von Coca-Cola wieder unruhiger geworden. Können Sie mir das erklären?» Er richtete seine Frage an die anwesende Chefärztin der psychosomatischen Abteilung der Uni-Kinder-Klinik, Frau Prof. Wallis.

Frau Wallis überlegte einen Moment und forderte uns niedergelassene Kinderärzte dann mit klarer Stimme auf, jetzt scharf mitzudenken. Die Begründung für die Wirkung der Coca-Cola sei ganz einfach, sagte sie. Solange die Mutter für ihr Kind eine sorgfältige Diät zubereitet habe, sei sie mit dem Kind in einer engeren, offensichtlich zugewandteren Beziehung gewesen. Wenn das Kind wieder Coca-Cola trinke, sei die Mutter offenbar wieder mit anderen Dingen beschäftigt, anstatt mit der Zubereitung einer sorgfältigen Diät.

Frau Wallis schaute minutenlang in die Runde und wartete auf ein Echo von uns. Nach fünf Minuten Schweigen stand ein Kinderarzt auf und sagte sinngemäss: «Sie meinen, Frau Prof. Wallis, das Problem sei die fehlende Hinwendung der Mutter zu ihrem Kind. Damit sei das Verhalten ihres Kindes die Folge eines Erziehungsproblems?» Frau Wallis sagte nichts und blickte abwartend in die Runde. Da keine weiteren Fragen kamen und keine Diskussion entstand, waren wir aufgefordert, uns eigene Gedanken zu ihrer Antwort zu machen.

Auch der Ordinarius des Lehrstuhls für Kinderheilkunde, Prof. Schulte, schwieg.
Ich weiss, dass diese so einfache, aber auch so klare Antwort bei einigen Kinderärzten ein Nachdenken bewirkt hat. Zu ihnen gehörte auch ich.

Ich begann zu jener Zeit eine breite interdisziplinäre Weiterbildung mit psychologischem Schwerpunkt, der Sicht des Menschen als Person und der Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehung für die Entwicklung des Kindes. Diese fundierte Sichtweise liess mich stets entschieden gegen die um sich greifende Psychiatrisierung von Kindern Stellung nehmen. So lernte ich auch, die politischen Hintergründe der späteren gegen mich geführten scharfen Kampagne zu verstehen und mich mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen.

«Die Diagnose ist eine Erfindung der Amerikaner. Die machen so etwas.»

Mitte der 90er Jahre, als bei unruhigen Kindern bereits zunehmend die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) diagnostiziert wurde, führte ich ein ausführliches Gespräch mit Herrn Prof. Schulte. Er war ein weltbekannter Spezialist für das kindliche Gehirn und war damals bereits emeritiert. Ich wollte von ihm erfahren, was er von dem Auftauchen und der raschen Verbreitung der Diagnose ADS hielt. Er sagte sinngemäss: «Die Diagnose ist eine Erfindung der Amerikaner. Die machen so etwas.» Er hatte Erfahrung, da er längere Zeit in Amerika gearbeitet hatte. Weiter sagte er, der Vorgang sei zu vergleichen mit einer Frischzelltherapie mit Hirnzellen zur Behandlung mongoloider Kinder. Er habe vor einigen Jahren in den USA einen Vortrag vor der Nordamerikanischen Gesellschaft für Kinderheilkunde gehalten. Er habe deutlich gesagt, eine Frischzelltherapie bei mongoloiden Kindern sei Unsinn, sie koste nur Geld, helfe nicht und mache den Eltern nur falsche Hoffnungen. Ausserdem sei sie sehr gefährlich. Das nenne man Betrug.

Nach dem Vortrag habe er gedacht, man würde ihn auf dem Rückflug nach Europa aus dem Flugzeug werfen. Aber sein Vortrag hatte eine grosse Wirkung. Seit er emeritiert sei, habe seine Stimme nicht mehr so viel Gewicht, sonst würde er jetzt gern mithelfen, die Diagnose ADS in zwei Jahren, wie die Frischzelltherapie in wenigen Wochen, vom Tisch zu fegen.
Er empfahl mir, einen wissenschaftlich belegten Artikel zu schreiben und ihn zu veröffentlichen. Ich folgte seinem Rat. Das Deutsche Ärzteblatt, die Monatsschrift Kinderheilkunde und Der Kinderarzt, das Standesblatt der deutschen Kinderärzte, lehnten jedoch eine Veröffentlichung ab. Auch mehrere Kinderärzte, Autoritäten auf ihrem Fachgebiet, waren nicht bereit, sich in die Problematik einer Psychiatrisierung kindlichen Verhaltens einzudenken.

«Diese ‹neuen Wissenschaften des Gehirns›, die Neuromythologie und der Biologismus, begannen, die wissenschaftlichen Grundlagen des europäischen Forschens und Denkens zunehmend zu beeinflussen. Sie sind aus den USA über den grossen Teich nach Europa geschwappt. Diese ‹neuen Wissenschaften› dienen dazu, die der menschlichen Natur entsprechende personale Sicht über den Menschen abzuschaffen!»
«Mit ‹Mehr Astrologie als Wissenschaft› bezeichnet Felix Hasler in seinem Buch ‹Neuromythologie› diesen Wandel.»

Laufend wurde in verschiedenen Blättern, in medizinischen- oder Laienzeitschriften, vorwiegend in denen von der Pharma­industrie gesponserten, die Diagnose ADS oder, wenn auch mit Hyperaktivität verbunden, als ADHS propagiert. Eine «Therapie» mit einem Amphetamin wie zum Beispiel Ritalin wurde als grosser Fortschritt dargestellt, sozusagen als Königsweg. Die regelmässige Verabreichung von Ritalin wurde gesellschaftsfähig. Heute, zwanzig Jahre später, wird die Diagnose den Kindern noch immer ungehemmt von Ärzten, Lehrern, Heilpädagogen oder Schulpsychologen übergestülpt. Dies, obwohl der Erfinder des ADHS kurz vor seinem Tod eingestand, die Diagnose selbst erfunden zu haben.4

Diese «neuen Wissenschaften des Gehirns», die Neuromythologie und der Biologismus, begannen, die wissenschaftlichen Grundlagen des europäischen Forschens und Denkens zunehmend zu beeinflussen. Sie sind aus den USA über den grossen Teich nach Europa geschwappt. Diese «neuen Wissenschaften» dienen dazu, die der menschlichen Natur entsprechende personale Sicht über den Menschen abzuschaffen! Zitat: «Die personale Auffassung vom Menschen sieht ihn als ein von Grund auf soziales Wesen, das sich in und durch die Gemeinschaft zur vollen Blüte seiner Persönlichkeit entwickelt. Er ist nicht einfach Produkt von Anlage und Umwelt, sondern verfügt über eine schöpferisch-gestaltende Eigenaktivität und ist fähig zu Vernunft und Ethik. Der Mensch ist fähig, Kultur zu schaffen und moralische Werte zu setzen.»5 Die Neurobiologen dagegen versuchen, die Funktion des menschlichen Gehirns, so auch die Denkvorgänge und Gefühlsabläufe, auf ein biologistisches Niveau zu reduzieren (Neuroreduktionismus). «Mehr Astrologie als Wissenschaft» bezeichnet Felix Hasler in seinem Buch «Neuromythologie» diesen Wandel.

Der Biologismus gipfelt in der Zuordnung von Vorgängen im Gehirn durch Bildgebende Verfahren. Mit Bildgebenden Verfahren wie MRT (Magnetresonanztomographie) oder PET (Protonenemissionstomographie) wird versucht, bestimmte Gefühle wie Trauer oder Wut, aber auch Krankheiten wie Depression bestimmten Gebieten des Gehirns zuzuordnen. So hat man zum Beispiel bei konservativen Wählern in den USA ein «auffällig grosses Volumen» des rechten Amygdala (Mandelkern) in einer Bildgebenden Untersuchung gefunden. Auch beim ADH-Syndrom soll es ein Zentrum im menschlichen Gehirn geben, wo die «Erkrankung» lokalisiert sein soll. Das ist Wissenschaftsbetrug! Bush sen. hat am Anfang der Neuro-Inflation gesagt: «Ich, George Bush, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, erkläre hiermit die am 1. Januar 1990 beginnende Dekade zur Dekade des Gehirns».6 Welch ein Hirn braucht es, um so etwas zu behaupten?

Weitere psychiatrische Diagnosen wie Asperger-Syndrom, Autismus, selektiver Mutismus, Social Anxiety Syndrom und Bipolare Störung wurden schrittweise etabliert. Viele junge Kinder werden heute mit solchen Diagnosen etikettiert. Eine Abklärung findet bereits im Kindergarten, spätestens aber in der Schule statt. Das öffnet Tür und Tor für den Markt der Frühförderungsprogramme. Solche Programme werden vorwiegend von para­staatlich agierenden privaten Stiftungen auf den Markt gebracht. Die bekanntesten europäischen Stiftungen sind die Bertelsmann-Stiftung (Deutschland) und die Jacobs-Stiftung (Schweiz).

Der 2013 herausgekommene DSM-5 enthält weitere «Krankheiten».7

Die ab 1990 begonnene Liberalisierung der Wirtschaft, die unter dem Begriff der Globalisierung gefasst wird, begann den Menschen unter dem Blickwinkel «Rendite» zu betrachten. Gesellschaftliche Reformen waren dementsprechend. So auch im Gesundheits- und im Bildungsbereich. Ziel der Bildung war nicht mehr der demokratiefähige Mitbürger, sondern der Homo oeconomicus. Auf diesem Boden steht der Lehrplan 21, der die genannten Auffälligkeiten bei unseren Kindern weiter ansteigen lassen wird. Das wollen wir nicht. Unsere Kinder haben ein Recht auf Bildung. Besinnen wir uns wieder auf eine ganzheitliche Pädagogik und das personale Menschenbild.8

Die Natur des Wesens Mensch wird entsprechend einer US-amerikanischen Klassifizierung umgedeutet!

Auf Grund meiner eigenen Geschichte und meiner kinderärztlichen Tätigkeit war ich von Anbeginn darüber empört, dass lebhaften und manchmal auch etwas nervösen, aber sonst gesunden Kindern die psychiatrische «Krankheit» ADHS übergestülpt wird. Eine psychiatrische Diagnose bedeutet für viele Kinder eine lebenslange schwere Hypothek. Ein Grundprinzip der Psychologie und der Pädagogik, die Würde des Menschen, wird durch eine Psychiatrisierung des Kindes missachtet. Sie verletzt die kindliche Seele.9

Ich begann, mir Verbündete zu suchen und über die Bedeutung und Auswirkungen von ADHS aufzuklären.
Dass dieses Thema sehr brisant war, muss­te ich bald erfahren. Die Nordelbische Kirche und interessierte Kreise starteten eine Kampagne gegen mich und den psychologischen Fachverein Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM), dessen Mitglied ich war und bei dem ich mich unter der fachlichen Leitung von Frau Dr. Annemarie Buchholz-Kaiser weiterbildete. Als Folge der Kampagne kämpfte ich längere Zeit um die Sicherung meiner Existenz. Die Verleumdungen gegen mich zwangen mich, mir eine neue Praxis an einem anderen Ort aufzubauen.

Eine Integritätsprüfung meiner Person vor einem Gremium der Hamburger Ärztekammer bezüglich meiner Mitgliedschaft beim VPM fiel sehr positiv für mich und den VPM aus. Zwei Prozesse wurden mit auch für mich positiven Urteilen entschieden. Ein junger Richter fällte ein Urteil, in dem die gedanklichen Inhalte des VPMs als besonders für die Jugend wertvoll beschrieben wurden. Die Inhalte seien in keiner Form für die Schüler einengend, sondern im Gegenteil, sie erweiterten deren Horizont.

Danach war der Weg wieder frei, um mich weiter dem Drogenproblem und der Aufklärung um die Vorgänge im Zusammenhang mit dem ADH-Syndrom zu widmen.

Meine Freunde und Kollegen bestärkten mich in meinem Anliegen, mich dagegen zu engagieren, dass mittels unsinniger Diagnosen und Medikamenten globalisierungstaugliche Eunuchen geschaffen werden. Ritalin bewirkt einen Stillstand in der seelischen Entwicklung, besonders in der Pubertät.

Viele Lehrer verhielten sich damals neutral, da sie bisher kaum Schüler mit einer solchen Diagnose in ihren Klassen hatten. Es fiel ihnen schwer, sich in den Umfang der Problematik einzudenken. Nur wenige schlossen sich zögerlich an. Wir waren jedoch sehr aktiv. Wir schrieben Artikel, hielten Vorträge und gaben Interviews. In Bregenz veranstalteten wir ein Symposium über das ADH-Syndrom.

Auch dem Hamburger Magazin Spiegel gaben wir ein Interview. Obwohl ich sehr gute Beziehungen zu dem Herausgeber des Spiegels und zu mehreren Redakteuren hatte, konnten oder wollten sie unsere Argumente nicht wirklich nachvollziehen. Ein auf unser Interview folgender Artikel im Spiegel brachte keines der von uns vorgebrachten Argumente. Trotzdem war der Bericht in einer Form geschrieben, die einige Leser sicher nachdenklich stimmte.

Die «Diagnose» ADHS usw. ersetzte alle vorherigen Diagnosen. Sie stützte sich auf eine zunehmende Zahl von «Symptomen», die fast alle als ein normales Verhalten von Kindern anzusehen sind. So gehört auch ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn zu den Symptomen, die heute ein ADHS beweisen sollen. Eine Lösung kindlicher Probleme in dem Bereich, in dem sie entstanden sind, nämlich im pädagogischen Bereich, wurde aufgegeben. So werden Fragen der elterlichen Erziehung oder Fragen aus dem Schulbereich wie Unterforderung, Vereinzelung oder Auswirkungen der Schulreformen wie Offener Unterricht, mangelnde Vermittlung von Wissensgrundlagen, aber auch Fragen aus dem sozialen Umfeld nicht mehr anamnestisch mit einbezogen. Psychologische Hilfe wird für nicht wirklich wirksam erklärt.

Ab jetzt stand eine medikamentöse «Behandlung» im Vordergrund. Neue «Therapie»-Methoden schossen wir Pilze aus dem Boden und flossen in die Ausbildungen aller psychologischen Heilberufe ein. Auf Grund solcher Fortbildungen ­massten sich manche dann schwerwiegende Diagnosen an. Immer wieder suchten weinende Eltern meine Praxis auf. Sie berichteten von Übergriffen in ihren persönlichen Bereich. Eine Ergotherapeutin hatte zum Beispiel einer jungen Mutter gesagt: «Da Sie einen so autoritären Vater hatten, ist die Beziehung zu Ihrem Sohn immer gestört.»

In Hamburg wurde mit dem Geld der Pharmafirma Hoffmann la Roche eine ADHS-Gruppe von Kinderärzten und Psychiatern gebildet, um ADHS weiter zu etablieren und zu erreichen, dass die Diagnose nur noch von «Experten» gestellt werden darf. Ein Kreis um den Vorsitzenden des deutschen Kinder-und Jugendärzteverbandes, Herrn Dr. Gritz, einen Hamburger und mir wohl bekannten Kollegen, wurde zunehmend zu einem Zirkel von rigiden Befürwortern des ADH-Syndroms. Ich erhielt einen Anruf von Herrn Gritz. Er sagte mir sinngemäss: «Herr Bau, warum fallen Sie uns so in den Rücken? Hängen Sie sich nicht noch einmal so weit aus dem Fenster, sonst gibt es noch einmal eine Kampagne gegen Sie». Ich habe ihm geantwortet: «Bisher ist es in Deutschland in der Wissenschaft noch nicht verboten, eine wissenschaftlich begründete Meinung zu äussern, oder?»

(Heute wird die Dosierung des Ritalin nach einer Checkliste der Ausprägung der sogenannten Symptome berechnet!). Hamburg liegt heute auf Platz 1 in Deutschland bei den Verschreibungen des nicht unumstrittenen ADHS-Medikaments. Insgesamt liegt die Verschreibungsrate für Ritalin in Hamburg um nahezu 50 Prozent höher als die im Bundesdurchschnitt ermittelte Verschreibungsrate.10

Die menschliche Vernunft hat den längeren Atem

Zunehmend begannen in verschiedenen Ländern Europas, aber auch in den USA, dem Ursprungsland des ADH-Syndroms, Eltern, Mediziner, Pädagogen und Psychologen gegen eine Psychiatrisierung der unmündigen Kinder und gegen die Wunderpille Ritalin Stellung zu nehmen.

Die italienische Vereinigung «Giu le mani dai bambini» (Hände weg von unseren Kindern) wirkte besonders eindrucksvoll.11

Die beschriebenen Folgen der Veränderungen in Pädagogik, Kinderheilkunde und Psychiatrie sind heute so offensichtlich, dass sich von vielen Seiten Widerstand regt (zum Beispiel «Lernmethode Lesen durch Schreiben», Spiegel online 19. Juni 2013). Die Zeit ist reif, diese das Kindeswohl schädigenden diagnostischen Fehlgriffe wieder in das Herkunftsland USA zurückzuschicken. Diesen Masterplan à la USA können weder wir in Europa noch sonst jemand in der Welt gebrauchen. Nach dem Zweiten Weltkrieg riefen die Menschen in Deutschland: «Ami, go home»! So könnte heute die ganze Welt rufen!

Dank einer seit Jahren interdisziplinär geführten Diskussion sind wir heute imstande, die politischen Vorgänge um den vollzogenen Paradigmenwechsel zu durchschauen, uns in verständlicher Form deutlich zu Wort zu melden und eine Umkehr zu bewirken. Eine Besinnung auf die Werte Europas bietet eine wissenschaftliche Grundlage für unser Handeln.

  1. vgl. in Kölner Stadt-Anzeiger vom 11.06.2013, Schtrait ums Schraibenlärn
  2. vgl. Mengenlehre – das ist Zeitverschwendung. Der Spiegel 36/1974. Die phonetische Schreibung als abschreckendes Beispiel. Heike Schmoll in Zeit-Fragen 31/32, 15. Oktober 2013
  3. siehe Sonderbeilage Zeit-Fragen vom 22. April 2002; Zeit-Fragen Nr. 8 vom 20.2.2012. Erfinder des  ADHS Leon Eisenberg: ADHS ist eine fabrizierte Erkrankung; M. Nestor, Frankfurter Allgemeine Zeitung 2013 NZZ vom 30.4.2012, Gewisse Diagnosen sind Ausdruck des Kulturwechsels, Wikipedia: DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostisches und  Statistisches Handbuch Psychiatrischer Störungen) Ethikkommission der Schweiz warnt vor Ritalin – gegen den Missbrauch von Psychopharmaka, 26. Dezember 2012
  4. vgl. Ritalin gegen ADHS – Wo die wilden Kerle wohnten. ADHS, die erfundene Krankheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.2.2012
  5. Genossenschaften – die Alternative zum Konstrukt des Homo oeconomicus, Zeit-Fragen Nr. 17, 6. Mai 2013
  6. Neuromythologie, Felix Hasler, ISBN 978-3-8376-1580-7
  7. Normal, Allen Frances, ISBN 978-3-8321-9700-1
  8. Die Bildungsreformen und die Psychiatrisierung hängen eng zusammen, vgl. Zeit-Fragen Nr. 34/35 2013, Bildungsbeilage
  9. Grundprinzipien aus Sicht der personalen Psychologie, Zeit-Fragen Nr. 20/21, 11. Juni 2013
  10. siehe Infoportal Nordfriesland www.infoportal-nordfriesland.de/index.php/news/aufreger-der-woche
  11. Zeit-Fragen Nr. 30 vom 21.7.2008 Sonderbeilage Zeit-Fragen 22. April 2002 Schweizer Ethikkommission, Stellungnahme: Ritalin – gegen den Missbrauch von Psychopharmaka, 26. Dezember 2012

Quelle:
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1699

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